Die Schlauchalge Vaucheria velutina ist die „Alge des Jahres 2021“.
Die Sektion Phykologie der Deutschen Botanischen Gesellschaft e.V. wählte die eingeschleppte Algenart, die dieses Jahr erstmals im norddeutschen Wattenmeer nachgewiesen wurde, „aufgrund ihrer plötzlichen Dominanz und der unabsehbaren ökologischen Folgen“, die ihre Anwesenheit dort mit sich bringen könnte. In den Schläuchen der Alge, die normalerweise nur am Ufer wächst, verfängt sich der Schlick, wodurch die Gänge der Wattwürmer verstopft werden. Somit verändert sich das Weltnaturerbe Wattenmeer.
Der Wattforscher Prof. em. Dr. Karsten Reise vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) hatte die Alge im vergangenen Sommer vor der Insel Sylt entdeckt, die Molekularbiologin Dr. Nataliya Rybalka von der Universität Göttingen analysierte anschließend die Genproben.
Mittlerweile bedeckt die Alge eine Fläche von mehr als 280 Fußballfeldern. „In meinen fast 50 Jahren als Wattforscher habe ich so eine rasante Ausbreitung einer neuartigen Alge noch nicht erlebt“, sagt Reise, der früher die Wattenmeerstation Sylt des AWI geleitet und die Ausdehnung per GPS vermessen hat. „Bei Sylt hat sie schon riesige Areale erobert, die sehr weit draußen im Watt bis zum Horizont reichen und wo nur selten ein Kurgast hinkommt.“
Ob sich der Algenrasen bei Sylt nach der Wachstumspause im Winter weiter vergrößert und wie er das Ökosystem Wattenmeer verändern wird, bleibt abzuwarten. Schon dieses Jahr ließ sich feststellen, dass die Alge weite Sandwatten in Schlickwatt umwandelt: Feine Sedimentpartikel, die mit der Flut eingeschwemmt werden, bleiben zwischen den dicht an dicht aus dem Boden ragenden Algenfäden hängen. Reise hat ausgerechnet, dass im Sylter Watt schon 20-mal mehr Algenfäden wachsen als es Sterne in der Milchstraße gibt. „Im Verlauf von nur einem Sommer hat sich ein weiches Schlickpolster aufgeschichtet, das bis zu zwanzig Zentimeter höher als das umgebende Sandwatt ist“, erklärt er. „Unter der Oberfläche ist der weiche Schlick tiefschwarz und dünstet faulig riechenden Schwefelwasserstoff aus.“
Um herauszufinden, um welche Schlauchalgenart es sich bei den sechs bis zehn Zentimeter langen Individuen handelt, analysierte Rybalka, die als experimentelle Phykologin an der Sammlung von Algenkulturen der Universität Göttingen forscht, einen kurzen charakteristischen Abschnitt im Genom der Sylter Algen-Proben. Dieser ermöglicht eine eindeutige Zuordnung zu einzelnen Arten in dieser Algengruppe. „Der von uns untersuchte DNA-Abschnitt des rbcL genannten Gens enthält den Bauplan für ein Protein, das im Chloroplasten vorkommt“, erläutert sie. „In diesem Abschnitt unterscheiden sich alle Vaucheria-Proben aus dem Sylter Watt von denen aus nah gelegenen Salzwiesen.“ Daher gehen die Forschenden im Moment davon aus, dass die Algenfäden im Watt von derselben Mutteralge abstammen. „Das konnten wir nur herausfinden, weil wir im Sonderforschungsbereich Taxon-OMICS neue Algenarten klassifizieren sowie die Vielfalt, Verbreitungsmuster und Verwandtschaftsbeziehungen der Algengruppe der Xanthophyceae (gelbgrüne Algen) analysieren, zu der auch Vaucheria velutina zählt“, so Rybalka, die in ihrem Projekt dazu neue Analyse-Methoden etabliert hat.
Schlauchalgen der Gruppe der Vaucheria zählen zu den frühesten Lebensformen unseres Planeten. Abdrücke fanden Geologen in bis zu einer Milliarde Jahre altem Gestein. Das erstaunliche an ihnen ist ihr Potenzial, sich bei optimalen Bedingungen explosionsartig zu vermehren. Reise vermutet, dass die Alge mit importierten Pazifischen Austern eingeschleppt wurde, die in Netzbeuteln im Sylter Wattenmeer für den Verzehr „gemästet“ werden, nachdem die einheimische Auster im vorigen Jahrhundert ausgerottet wurde.
Sollte die Schlickanhäufung im Sandwatt weitergehen, würde das besonders den Wattwürmern zusetzen. Die Gesamtheit aller Wattwürmer schichtet jährlich so viel Sand im Wattenmeer um, dass sich damit die Stadtfläche von Hamburg 15 Meter hoch bedecken ließe. „Wenn der zwischen Vaucheria hängenbleibende Schlick die Gänge der Wattwürmer verstopft, ist alles Leben im Wattboden davon betroffen“, so die Forscherinnen und Forscher. „Das kann sogar Auswirkungen auf die Fähigkeit des Wattenmeeres haben, sich im Klimawandel dem schnell steigenden Meeresspiegel anzupassen. Derzeit verändert sich das Weltnaturerbe Wattenmeer unumkehrbar, direkt vor unseren Augen und durch eine eigentlich sehr kleine Alge.“
Quelle: Georg-August-Universität Göttingen, Bild: Karsten Reise